Die Kennzeichen für spirituellen Fortschritt (1)
Auszüge aus der Vortragsserie von Swami Veda Bharati
(Adhyatma Yoga-Retreat, 2002)
Teil 1
Den meisten Menschen mangelt es an Selbstwahrnehmung, an Disziplin, an Stille, an Beständigkeit und Stabilität. Unser gesamtes Leben ist von Bewegung gekennzeichnet. Man bewegt sich erst hierhin, dann zu etwas anderem. Man erlebt Erfreuliches, dann folgen schmerzhafte Erfahrungen. Das eine will man haben, etwas anderes lehnt man ab. Den einen Menschen mag man, den anderen jedoch nicht. Man ist ganz in eine Sache vertieft, doch dann entsteht eine kleine Störung oder kommt eine Bemerkung, und schon ist alles vorbei. Diese Eigenschaften unseres Geistes und unserer Emotionen bewirken Störungen auf der Prana-Ebene. Die Energien fließen nicht mehr als harmonischer Strom, sondern einmal hierhin, dann dorthin. Dieses Fließen kennt kein Zentrum, es gleicht mehr einem Fluss, der fortlaufend seine Fließrichtung ändert.
Freisein von Ichzentriertheit
Meditation ist nicht etwas, bei dem man sich hinsetzt, die Augen schließt und die Mala-Perlen zählt. Meditation, die nicht dein gesamtes Leben, deine Emotionen, deine Wünsche, dein Verlangen, deine Abneigungen, deinen Prana-Fluss vollkommen durchdringt, ist wertlos. Sie ist nur eine Flucht vor dem Leben, Flucht vor Problemen und Schwierigkeiten. Jede Meditation, die vom Alltag abgetrennt ist, ist keine Meditation, so lehren es die Meister der Tradition. Meditation, die der Flucht vor dem Alltag dient, ist keine Meditation. Meditation, die zur Lösung von Alltagsproblemen führt, Meditation, die nicht egozentrisch ist, ist wahre Meditation - man ist selbstbewusst, jedoch nicht ichzentriert.
In egozentrierter Meditation kreisen die Gedanken um die Frage: 'Wie kann ich geistigen Frieden erlangen? Wie kann ich all meine Schmerzen überwinden?' Es geht ausschließlich darum, der Welt der eigenen Schmerzen und Probleme zu entfliehen.
Von Egozentriertheit freie Meditation weist gewisse Merkmale auf. Manche eurer Erwartungen an einen spirituellen Lehrer, einen spirituellen Begleiter, sind unrealistisch. Was ich euch bieten kann, ist allein der kleine Tropfen der Stille, den mein Meister aus dem Ozean des Friedens, den er in sich trug, auf diese Person übertragen hat.
Stetigkeit
Warum könnt ihr nicht für längere Zeit meditieren? Weil ihr euch in eurem Leben nicht für längere Zeit auf eine Sache einlassen könnt. Weil ihr nicht in der Lage seid, ein einzelnes Gefühl stetig aufrecht zu erhalten, nicht einmal die Liebe zur eigenen Frau, dem eigenen Mann. Daher gelingt es auch nicht längere Zeit zu meditieren. So wie ihr im Leben zwischen verschiedenen Möglichkeiten hin und her schwankt, so schwankt ihr auch in der Meditation hin und her. Die Wirbelsäule ist nicht gerade, da die pranische Energie nicht zentriert fließt.
Es gibt zwei Wege: den Weg von innen nach außen und den Weg von außen nach innen. Diese beiden Wege sind ein und derselbe. Sich seines spirituellen Wesens bewusst zu sein. Dieses spirituelle Wesen, dieses Atman, dieses Selbst, ist immer stetig und gleich. Der Sanskrit-Ausdruck dafür ist 'dhruva' (stetig, beständig, gleichbleibend). 'Naa dhruvahi, praapyate hi dhruvant tat' - 'Durch unstetige Mittel kann man das Beständige nicht erlangen'. Die Beständigkeit deiner Gefühle wird sich in deinem Körper ausdrücken. Stetigkeit, Beständigkeit ist jedoch nicht gleichbedeutend mit Bewegungslosigkeit. Es gleicht eher dem beständigen Fließen des Wassers im Fluss - es ist nicht nicht starr, sondern stetig.
Emotionale Stabilität
Lernt man, sich achtsam zu bewegen, achtsam zu sitzen, entsteht ein gewisses Maß an emotionaler Stabilität, auch in den Beziehungen. Oft erlebe ich, wie seit langem Übende in Meditation sitzen, wunderbar, tief - und wie ruhig ihre Augen sind, wenn sie aus der Meditation kommen. Doch dann ist dieser Moment vorüber, und schon tauchen die gleichen Störungen auf. Das ist der Fall, weil man der Wirkung der Meditation nicht gestattet hat, den gesamten Körper zu durchdringen und für ein ruhiges Fließen des Prana zu sorgen.
Will man eine Gewohnheit verändern, so braucht es anfangs einigen Einsatz: 'Ach, ich hab's vergessen! Das werde ich nie schaffen!' Verurteile dich nicht. Denk lieber an die Male, als es dir möglich war, identifiziere dich mit diesen Momenten. Das ist das Göttliche in dir. Identifiziere dich mit dem Göttlichen in dir. Karma-Yoga bedeutet Yoga im Handeln zu praktizieren. Yoga zu üben, während man sich auszieht und die Kleider wegräumt, während man seine Schuhe auszieht. Hier beginnt die Asana-Praxis. Die Art wie du deinen Meditationsplatz vorbereitest, deine Decke faltest, ganz natürlich, ohne künstlich zu werden.
Was immer man beständig wiederholt, wird zu einer Gewohnheit. Eine sattvische Gewohnheit entsteht aus dem Inneren, aus der sattvischen göttlichen Natur.
Die Methoden des Yoga unterrichten - das tun heute alle, es gibt keinen Mangel an Gelehrten. Man kann all die Texte übersetzen - es gibt keinen Mangel an Dozenten. Doch wie schaut es mit der inneren Stabilität aus? Dafür braucht es nicht nur Sattva, man muss sich auch um Tamas kümmern. Werde tamasisch! Steht Sattva im Dienst von Samas, entsteht daraus Stillstand. Steht jedoch Tamas im Dienst von Sattva, resultiert daraus Stabilität.
Bewusstheit
Der Körper besteht zu 70% aus Wasser, trotzdem behält er dank Tamas seine Form. Die tamasische Kraft stabilisiert die Körpergestalt. Doch zwischen Stagnation und Stabilität besteht ein Unterschied. Beides sind Funktionen von tamas. Es geht um die rechte Stabilität und Stetigkeit des Körpers, um die Beständigkeit des Blickes.
Sei dir bewusst, dass du schaust. Sei dir deiner Bewegungen bewusst. Sei dir deines Atems bewusst. Sei dir bewusst, was du fühlst, wahrnimmst, beobachtest. Sei dir bewusst, dass du sitzt, dich zurücklehnst, dich hinlegst, kniest oder stehst. Das ist spirituelle Praxis.
Halte deine Stirn entspannt - übe dich darin. Versuche einen Tag lang, deine Stirn entspannt zu halten, und du wirst eine Veränderung in dir wahrnehmen. Ist deine Stirn entspannt, kannst du dir keine Sorgen machen, du kannst nicht ärgerlich sein, du kannst nicht ängstlich sein. Es ist eine sehr fortgeschrittene Praxis, probiere es aus. Die einfachsten Dinge sind am schwierigsten. Probiere diese einfachen Dinge aus.
Der Körper eines Yogi bleibt immer still - so wie eine Kerzenflamme ruhig brennt, wenn es keinen Lufthauch gibt.
Ist der Geist aktiv -und ist der höhere Geist als Beobachter sich stets dieser Aktivitäten bewusst, wenn selbst im Schlaf der höhere Geist den ruhenden niederen Geist beobachtet - dann ist man auf dem Weg.