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Die Kennzeichen für spirituellen Fortschritt (3)

Auszüge aus der Vortragsserie von Swami Veda Bharati
(Adhyatma Yoga-Retreat, 2002)
Teil 3

Die Sucht nach außergewöhnlichen Erfahrungen

Man redet viel über spirituellen Fortschritt. 'Swamiji, mache ich Fortschritte in meiner Meditationspraxis?' Viele denken dabei an feinstoffliche Erfahrungen, wie etwa die Erfahrungen im feinstofflichen Körper oder Erfahrungen des universellen Unbewussten. Sutras 15 und 16 des ersten Kapitels der Yoga-sutras warnen davor, da man an diese Art von Erfahrungen sehr leicht Anhaftung entwickelt.

Der feinstoffliche Körper besteht aus feinstofflicher Materie, nicht aus Bewusstsein. 'Oh, ich kann Dinge wahrnehmen, die sich an weit entfernten Orten ereignen, ich muss also große spirituelle Fortschritte machen'. Die Fähigkeit zu hören, was jemand zweitausend Meilen entfernt über eine Person sagt, hat nichts mit spirituellem Fortschritt zu tun. Das sind Ereignisse, die im universellen unbewussten Geist, nicht im überbewussten Geist stattfinden. Diese Dinge nähren allein das Ego und verhindern den Fortschritt. Geht über diese Phänomene hinaus. Zweifellos gibt es Siddhis, gewisse Fähigkeiten, doch für Samadhi sind all diese Phänomene nur Hindernisse.

Spiritueller Fortschritt beginnt mit der Meisterung des Wachzustands, des Traum- und des Schlafzustands. Wir sprechen von spirituellem Fortschritt, nicht Fortschritten des subtilen Körpers oder des Geistes.

Wenn man sich spirituell entwickelt, zeigen sich bestimmte Eigenschaften, Merkmale. Es sind weder außerkörperliche Erfahrungen noch die Fähigkeit zur Weissagung. So wie ein kleines Kitzeln auf der Haut keine spirituelle Erfahrung ist, so ist auch ein kleines Kitzeln im subtilen Körper noch keine spirituelle Erfahrung. Es sind subtile Erfahrungen, aber keine spirituellen. Nicht alle internen Erfahrungen sind Erfahrungen des Unsterblichen.

Dieser Weg ist sehr schwierig. Den meisten Menschen, die zu uns kommen und ihre spirituellen Erfahrungen beschreiben, müssen wir mitteilen: 'Nein, das ist keine spirituelle Erfahrung'.

Nur das Unvergängliche zählt

Hier vermitteln wir einen sehr reinen Weg. Nur das Unvergängliche zählt. Auf diesem Weg kommt man durch viele Täler, doch warum solltest du dich in einem dieser Täler niederlassen? Das Tal ist nicht der Gipfel. Auf diesem Weg wird man feinstofflichen Phänomenen begegnen, diese subtilen Phänomene sind weitaus machtvoller als die grobstofflichen Erscheinungen. Daher sind sie für viele auch so attraktiv. Suchende sollten spirituell ambitioniert sein und nicht bei diesen geringwertigen Attraktionen verweilen.

Veränderungen des Körpers und der Ausdrucksweise

Woran kann man also erkennen, ob man spirituelle Fortschritte macht oder nicht? Zum Beispiel: bin ich körperlich im Gleichgewicht? Ist stilles Sitzen noch immer eine Bemühung, oder ist es für mich natürlich? Der Körper, die Haltung einer spirituell fortgeschrittenen Person verändert sich. Steht diese Person aufrecht, ist die Haltung entspannt, frei von Anstrengung. Um zu erkennen, ob eine Person emotional ausgeglichen ist oder nicht, schaue ich, wieviel sie sich bewegt. Schwankungen der Körperhaltung stehen in Zusammenhang mit emotionaler Unruhe. Merkmale für spirituellen Fortschritt sind ein entspannter, bewegungsloser Körper, ein ausbalancierter Körper. Jede Bewegung ist bewusst, nicht unwillkürlich.

Der Körper äußert eine natürliche, unangestrengte und entspannte Stille, er ist im Gleichgewicht. Man ist sich der Bewegungen bewusst und setzt sie bewusst ein, um bezogen auf das, was man erreichen will, größtmögliche Wirkung zu erzielen.

Ein steifer Nacken ist kein Zeichen für spirituellen Fortschritt, ein entspannter und unbewegter Nacken ist es. Beobachte die Muskulatur deines Nackens, und du wirst feststellen, ob du ausgeglichen bist oder nicht. Dasselbe gilt für den Gesichtsausdruck und die Bewegung der Kiefergelenke.

Danta-mudra, Zahn-mudra - ein geheimer Aspekt von Khecari-mudra - ist eine Praxis der fortgeschritteneren Stadien des Kundalini-yoga. Dabei werden die Zähne in bestimmter Weise aufeinandergepresst. Man trainiert den ganzen Körper darin, unbewegt zu sein. Dazu muss man auch üben, Kiefergelenke und Zunge bewegungslos zu halten. Denn wenn die Energie sich aufwärts bewegt, werden sich sonst Kiefer und Zunge zu bewegen beginnen und die Kundalini-Energie wird verzettelt. Khecari stellt die Zunge ruhig, der Zweck von Danta-mudra ist, den Kiefer unbewegt zu halten.

Deine Stimme und dein Gesicht verändern sich. Wer dich bereits aus der Zeit kennt, bevor du dich auf diesen Weg begeben hast, wird feststellen, dass sich auf deinem Gesicht die Qualität von Saumya, von Sanftheit und Harmonie zeigt. Es handelt sich um eine Qualität, die in anderen Menschen Zuversicht hervorruft, sie friedvoll stimmt. Es ist keine feurige Qualität, mehr die von gleichmäßig fließendem Wasser oder der Kühle des Mondes.

Auch die Stimme verändert sich. Die Stimme ist ruhig, jedoch nicht monoton oder einschläfernd. Sie wirkt beruhigend. Man spricht nicht aus der Kehle, sondern aus dem Bauchraum oder aus dem Herzen, aus den tieferen Bereichen deines Geistes.

Bewusste Kontrolle des Wachzustands

Man meistert den Wach-, Traum- und Schlafzustand. Im Wachzustand reguliert man bewusst und willentlich die Stärke seiner Aufmerksamkeit, das Beobachten wird sehr präzise. Ich verrate euch ein Geheimnis: je mehr man den Geist aus den Wahrnehmungen der Sinne zurückzieht, desto feiner werden die Sinne. Sie werden nicht dumpf, denn sie werden jetzt erfüllt von der Energie, die aufgrund der entwickelten Stille nicht mehr sinnlos durch unnütze Bewegungen, unkontrollierte Schwelgerei und beliebige Erfahrungen verschwendet wird.

Je mehr man seinen Geist aus den Augen zurückzieht, desto schärfer und präziser werden die Augen. Hat man gelernt, sich zurückzuziehen, hat man ebenso gelernt, diese zusätzliche Energie bewusst in seine Augen zu lenken, sofern man das so möchte. Du nimmst Dinge wahr, die andere nicht wahrnehmen.

Gewöhnlich geschieht alles Wahrnehmen zufällig und passiv. Licht fällt in das Auge, also sieht man. Geräusche erreichen das Ohr, also hört man. Man sieht, hört, schmeckt, berührt oder riecht nicht bewusst, denn man hat nicht gelernt, die Sinne zurückzuziehen. Daher sind die Sinne nicht geschärft, nicht präzise.

Ähnliches gilt für die Aktivität des bewussten Geistes. Normalerweise kennen wir nur zwei Zustände des Geistes: Kshiptam und Mudham. Sie treten zusammen auf. Kshiptam - völlig zerstreut: jetzt dieser Gedanke, dann jene Empfindung, dann eine Emotion und so weiter, Anziehung, Ablenkung, Aversion - ständig und ohne Unterbrechung. Diese Unstetigkeit verhindert, dass der Geist wach und aufmerksam ist.

Während dieser kleine Teil des Geistes zerstreut und voller Unruhe ist, bleibt der überwiegende Teil des Geistes im Zustand von Mudham - dumpf, unaufmerksam, nicht wach, komatös. Wir alle befinden uns im Koma! Hierin liegt der Grund, weshalb wir nicht richtig wahrnehmen. Deshalb können wir nicht verstehen, weshalb jemand ärgerlich ist. Wir können nicht verstehen, welcher Schmerz es verursacht, dass jemand eine negative oder unfaire Bemerkung über dich äußert. Es geht um Meisterung des Wachzustands.

Bewusste Kontrolle des Traum- und Schlafzustands

In Sutra I.38 habe ich beschrieben*, welche Art Träume als innere Inspirationen anzusehen sind. Viele sogenannte 'göttlich inspirierte Träume' sind nichts als Erzeugnisse des eigenen unbewussten Geistes. (* Swami Veda Bharati, Yoga-sutras of Patanjali, Vol. I)

Meisterschaft des Schlafzustands lässt sich auf verschiedene Weise feststellen. Kann ich einschlafen, wann ich es möchte? Kann ich aufwachen, wann ich es möchte? Ist mein höherer Geist Zeuge der Tatsache, dass ich schlafe? Yogis schlafen in dieser Art.

Man geht nicht direkt aus dem Wachzustand und auch nicht durch all die Tagträumerei und diversen Vorstellungen in den Schlaf über. Hierzu eine der Grundprinzipien des Yoga als Erläuterung: wenn man eine Bewegung nach links durchgeführt hat und man möchte die Bewegung nach rechts beginnen, was macht man dazwischen? Man kommt zuerst in die Mitte! Man verändert nichts, ohne vorher in sein Zentrum zu kommen. Bevor man also vom Wachzustand in den Schlafzustand wechselt, kommt man in sein Zentrum. Du trittst in den Zustand der Meditation ein und gehst von dort in den Schlaf über. Und beim Aufwachen geht man nicht unmittelbar vom Schlafzustand in den Wachzustand über. Man hat beobachtet, wie dieser Teil des Geistes im Schlaf liegt. Hat dieser Teil des Geistes im Schlafzustand ausreichend geruht, geht man über in den Zustand der Meditation. Und von dort geht man schließlich über in den Wachzustand.

Als nächstes kommt Yoga-nidra. Was man gewöhnlich als yoga-nidra bezeichnet, sind lediglich Vorbereitungen. Hat man echtes Yoga-nidra entwickelt, ist man fähig, alles sehr schnell zu erlernen. Der Zugang zum gesamten Wissen des universellen Unbewussten ist offen. Man kennt die Zugänge zum universellen Unbewussten und schöpft daraus, man schreibt oder spricht aus dieser Quelle.

Bewusste Kontrolle der Emotionen

Yoga ist ein Weg hoher Subtilität und Reinheit. Es ist ein Weg, den Geist zu einem fein ausgerichteten Strahl zu formen, feiner als der stärkste Laserstrahl. Nur dadurch erreicht man vollständige Kontrolle über den Geist und die Emotionen.

Eine Person, die spirituelle Fortschritte macht, gewinnt völlige Kontrolle über die Funktionen des Geistes und die Emotionen. Man will keinen Hass pflegen, daher entscheidet man sich, keinen Hass in sich zu tragen. Man ist fähig, Ärger zu äußern ohne wirklich ärgerlich zu sein. Man selbst entscheidet den Grad oder die Intensität der Liebe, die man ausdrücken will.

Emotionen sind die in der menschlichen Persönlichkeit am einfachsten zu kontrollierenden Erscheinungen. Gedanken sind schwieriger zu beherrschen.

Bewusste Kontrolle der geistigen Funktionen

Man besitzt völlige Kontrolle über die Funktionen des Geistes. Wenn jemand kommt und Unterstützung benötigt, wendet man sich zu, hört zu, gibt Unterstützung. Sobald die betreffende Person wieder geht, bleibt nichts davon im Geist zurück.

Dies sind Kennzeichen für spirituellen Fortschritt. Unabhängig davon, in welchem Ton jemand mit dir spricht, ob sich jemand ärgert, sich abwendet, dich böse anschaut oder dich anhimmelt - man lässt es hinter sich. Man bleibt unberührt von Widrigkeiten und Erfolg, von allem Schönen wie Hässlichen um sich herum.

Die meisten Menschen leben aus ihren Wünschen, eine spirituelle Person lebt aus dem Willen. Ein Mensch auf dem spirituellen Weg kennt immer sein Ziel. Selbst wenn man vom Weg abweicht, kennt man sein Ziel, denn man besitzt völlige Meisterschaft und Kontrolle. Diesen Zustand nennt man Vashikara, es bedeutet, 'alles unter bewusster Kontrolle haben'.

Freisein von Eigennutz

Noch etwas: ein Mensch auf dem spirituellen Weg äußert keine unnötigen Worte. Eine spirituelle Person nützt Kommunikation, Emotionen und Gedanken nicht für egoistische Wünsche. Sie setzt ihre Kraft zum Wohle anderer ein. Ein Lehrer, der seine persönlichen Vorteile im Auge hat, der Bewunderung und Erfolg sucht, ist kein Lehrer.

Bevor mein Meister seinen Körper verließ, warnte er mich in Bezug auf ich-zentrierte Meditation. Er sagte: 'Eure Meditation ist auf euch selbst orientiert, ihr praktiziert ich-zentrierte Meditation.' Ich sehe ebenfalls diese Erscheinungen, 'Ich will spirituelle Fortschritte machen!' Doch man grüßt nicht, liebt niemanden, redet nicht freundlich mit anderen, kann Schwächen anderer nicht tolerieren oder ist voreingenommen.

Das einzige Bestreben einer spirituell fortgeschrittenen Person ist, ein Bodhisattva zu sein - jemand, der die Leiden anderer verringert. Ist jemand ärgerlich auf dich, erkennt man den diesem Ärger zugrundeliegenden Schmerz oder die Angst. Du wirst den wahren Grund dafür erkennen, denn dein Geist und dein emotionaler Körper sind nicht durch das Tamas des Eigeninteresses, der Ego-Emotion, der Abwehr und Furcht vernebelt.

Meditation entsteht mühelos

All dies sind Kennzeichen für spirituellen Fortschritt. Dann wird der Meditationszustand mühelos eintreten, er wird von selbst in dir entstehen und dich erfüllen. Man kämpft nicht mehr darum, in Meditation zu finden, man kämpft nicht gegen all die Gedanken, Gefühle, Emotionen, Erinnerungen und Befürchtungen. Meditation entsteht dann einfach. Oder wie Tagore es ausdrückt, 'Ein Regenschauer der Gnade fällt in dich hinein'. Dann brauchst du dir keine Sorgen mehr um deinen spirituellen Fortschritt zu machen.

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