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Die Kennzeichen für spirituellen Fortschritt (2)

Auszüge aus der Vortragsserie von Swami Veda Bharati
(Adhyatma Yoga-Retreat, 2002)
Teil 2

Zwei Texte sind in unserer Tradition von großer Bedeutung: die Yoga-sutras von Patanjali und die Hatha-yoga-pradipika von Svatmarama.

Die Hatha-yoga-pradipika ('Licht auf Hatha-yoga') von Svatmarama, einem großen Yogi, beginnt mit einer Ehrung von zweiunddreißig Meistern, die vor ihm gelebt haben. Der Großteil der Texte dieser Meister ist verloren gegangen und nicht mehr verfügbar.

Die Bedeutung von Begriffen

Beim Studium spiritueller Texte ist zu bedenken, dass sie auf Grundlage einer bestimmten Theorie und mittels Sprache vermittelt werden, wobei in einer Übersetzung ein Wort durch ein anderes Wort ersetzt wird. Bekanntlich hat ein deutscher oder englischer Begriff nicht dieselbe Bedeutung wie der Sanskritbegriff - und umgekehrt.

Was ist die Bedeutung des Begriffs 'Buch'? Diese Erfahrung (Swamiji hält ein Buch hoch) ist die Bedeutung des Wortes 'Buch', nicht irgendein anderer Begriff. 'Swamiji, welche Bedeutung hat mein Mantra?' Man antwortet mit Worten in einer anderen Sprache, doch das ist nicht dessen wirkliche Bedeutung. Die Bedeutung eines Begriffs kann in keiner Sprache ausgedrückt werden, denn Bedeutung ist nichts Verbales. Die wahre Bedeutung ist jene Erfahrung, auf die das Wort hinweist.

Daher sollte man in allen Übersetzungen, allen Texte, in allen Sprachen niemals die Bedeutung des Texts festlegen. Die Bedeutung des Textes liegt in der Erfahrung.

Erfahrung

Die Hatha-yoga-pradipika beginnt mit zwei grundlegenden Dingen: zum einen mit der Ehrung der Überlieferungslinien der Meister. Das Zweite ist die sehr klare und  nachdrückliche Aussage, dass Hatha-yoga nur im Kontext mit Raja-yoga von Bedeutung ist. Es gibt keinen Hatha-yoga für sich. All die übersetzten Texte, in denen die Arbeit von Svatmarama lediglich als Hatha-yoga dargestellt wird, losgelöst von der inneren spirituellen Erfahrung, diese Texte würde ich außer Acht lassen.

Die Betonung liegt auf der Erfahrung, die weitergegeben wird. Die Yoga-sutras, die Bhagavad-gita, die Upanishaden, die Hatha-yoga-pradipika, die Veden - all diese Texte sind nichts als Schilderungen der persönlichen Erfahrung der Yogis.

Solange man nicht innenorientiert ist, kann sich die Bedeutung dieser Texte nicht erschließen. Wenn in den Yoga-Traditionen das Yoga-Wissen vermittelt wird, werden zwei Begriffe häufig gebraucht: bahir-mukha und antar-mukha. Bahir bedeutet 'nach außen', antar bedeutet 'nach innen', mukha bedeutet 'Gesicht'. Eine Person, die ihre Aufmerksamkeit nach außen richtet, eine Person, die ihre Aufmerksamkeit nach innen richtet.

Antar-mukha - innenorientierte Aufmerksamkeit

Um festzustellen, ob jemand wirklich Yoga praktiziert, braucht man nur auf zwei Dinge achten. Inwieweit ist die Aufmerksamkeit nach innen orientiert - und inwieweit äußert der Körper Anzeichen der Ruhe, einer inneren Stille. Entsteht die Aktivität der Sinne aus einem inneren Zentrum der Stille? Selbst wenn der Körper in Bewegung ist, sollte das innere Zentrum weiter still sein.

Aus der Gewohnheit der Innenorientiertheit (antar-mukha) und aus der Gewohnheit der Stille entwickeln sich automatisch weitere charakterliche Eigenschaften. Die yama-niyamas entstehen als natürliche Tendenzen, ohne Bemühung. Ganz natürlich ist man bestimmten Dingen zugeneigt, bezogen auf andere Dinge entsteht einfach Desinteresse.

Wenn man zwar weiß, was die rechte Art des Handelns ist, jedoch nicht dazu neigt, bzw. wenn man die falsche Art zu handeln erkennt und ihm trotzdem nicht abgeneigt ist, solange kann man sich noch nicht als Yoga-Praktizierende/n bezeichnen. Wahre Yoga-Praktizierende haben die Praxis von Abhyasa zu ihrer Gewohnheit gemacht: 'Tatra sthitau yatno'bhyasah' (Yoga-sutras I.13) - 'Von diesen beiden, Übung und Losgelöstheit, wird die Bemühung um Stille und Stabilität des Geistfeldes als Übung bezeichnet.'

Abhyasa - Übung

Abhyasa, 'Übung', hat zwei Bedeutungen. Übung ist die Bemühung, den tiefsten, höchsten, stillsten Zustand, den man erreicht hat, auch über die Meditationspraxis hinaus aufrecht zu erhalten. Einen erreichten Zustand also nicht nur in der Meditation beizubehalten, sondern auch zu allen anderen Zeiten. Die Bemühung, in diesem Zustand zu verweilen, ist die Übung, durch die man antar-mukha wird. Es ist das Kennzeichen eines nach innen orientierten Bewusstseins.

Als zweite Bedeutung von Abhyasa definiert dieses Sutra das Streben nach Stille, Stabilität - sthiti. Stille während man spricht, Stille während man schaut, Stille während man den Arm bewegt. Wenn man ein Asana (eine Körperhaltung) einnimmt, erfährt man Stille. In der Haltung selbst erfährt man Stille - und Stille, während man aus dem Asana herauskommt. Das ist Abhyasa, das ist Übung.

Ich treffe viele Menschen, die über 50 Jahre lang Pujas (Rituale) durchführen oder 20, 25 Jahre lang Yoga-asanas üben. Trotzdem erkennt man an ihnen noch eine der Begleiterscheinungen eines zerstreuten Geistes - eines Geistes, der nicht zur Ruhe kommt und nicht still wird.

Lösen der Anstrengung

Yoga-sutra II.47: Prayatna-shaithilya-ananta-samapattibhyam - 'Das Asana wird vollendet durch Loslassen der Anstrengung (Bemühung) und durch Verbindung mit dem Unendlichen'.

Die Bemühung um Stille soll Prayatna-shaithilya sein, es sollte eine entspannte Bemühung sein, nicht eine Bemühung, die von Anspannung oder Ehrgeiz gekennzeichnet ist.

Häufig werden diese Feinheiten des Yoga nicht beachtet. Trotzdem verlangen alle nach fortgeschrittener Praxis. Doch das, was wir hier beschreiben, IST fortgeschrittene Praxis. All das, was mich unterstützt, die innere Aufmerksamkeit zu vertiefen, das es mir ermöglicht, tiefere Stille zu erfahren. All das, was mir ermöglicht, Fortschritte zu machen und mit der tiefsten Erfahrung in mir verbunden zu bleiben, selbst beim Erledigen der täglichen Verpflichtungen.

Diese Art Entspannung entwickelt sich allmählich, indem man sich in allem Tun in Achtsamkeit übt - und durch das Üben spezifischer Entspannungsmethoden. Ist man fähig, die größte Tiefe an Entspanntheit, die man in Shavasana entwickelt hat, auch in den Aktivitäten des Alltags aufrechtzuerhalten, dann hat man das Siddhi, die Vollendung von Shavasana erreicht.

Dieses Antar-mukha-Prinzip sollte man wirklich verstehen. Man bleibt selbst dann innenorientiert, wenn man nicht mit geschlossenen Augen sitzt und übt. Lass diesen Begriff sich tief in deinem Geist einprägen. 'Bin ich innenorientiert, ruhe ich in mir - oder werde ich wie ein Blatt im Wind beständig durch äußere Dinge in Bewegung gehalten?'

Stabiles Fundament

Manche sagen: 'Ich kann in einer Gruppe nicht meditieren. Ich bin gerne an einem stillen Ort. Ich meditiere lieber für mich allein.' Doch sobald man meditiert, gibt es keine Gruppe, es gibt nur dich, niemanden sonst. Dort wo du sitzt, sitzt sonst niemand. Hat man sich darin geübt, nach innen orientiert zu sein, gibt es keine Gruppe. Auf diese Weise sollte man lernen, nach innen zu gehen.

Immer wieder erinnern wir daran: 'Sa tu dirgha-kala-nairantarya-satkarasevito drdha-bhumih' - 'Das Üben bildet nur dann ein festes Fundament, wenn es über lange Zeit, fortwährend und ohne Unterbrechung, voller Achtung und mit aufrichtiger Hingabe vollständig geübt wird' (Yoga-sutras I.14).

Über lange Zeit, ohne Unterbrechungen, mit Beständigkeit und Vertrauen durchgeführt, wird sie zur festen Grundlage. Dann kann man auch in einem Rock-Konzert, inmitten von 10.000 im wilden Rhythmus der Musik tanzenden Menschen, nach innen gehen und in die Stille eintreten - und in dieser Stille verweilen, solange man wünscht.

Meister des Schlafs

In der Bhagavad-gita nennt Krishna seinen Schüler Arjuna 'Gudakesha'. Gudakesha bedeutet 'Meister des Schlafes'. Und Arjuna nennt seinen Meister 'Hrishikesha', 'Meister der Sinne'. Der Meister der Sinne spricht zum Meister des Schlafes. Dies ist voller Bedeutung, denn wir sprechen von den drei Bewusstseinszuständen: Wachbewusstsein, Traumzustand und Tiefschlaf (jagrat, svapna, sushupti). Traumzustand und Tiefschlaf sind völlig verschiedene Zustände. Hat man den Wachzustand, den Traumzustand und den Tiefschlaf gemeistert, dann ist man bereit für die Erkenntnis des vierten Zustandes (turiya). Diese Erkenntnis wird nur jenen gewährt, welche die Voraussetzungen dafür erfüllen. Was also Krishna hier zu Arjuna sagt ist, 'Du hast den Schlaf gemeistert, den dritten Zustand; jetzt bist du bereit für den vierten Zustand.'

Ihr wollt Samadhi, den vierten Zustand, ohne den Schlaf und ohne den Traumzustand gemeistert zu haben. Ihr habt nicht einmal den Wachzustand gemeistert. Lerne daher den Wachzustand zu meistern. Lerne den Traumzustand zu meistern. Lerne den Tiefschlaf zu meistern. Dann wird irgendein Krishna kommen und dich Gudakesha nennen: 'Jetzt bist du qualifiziert, denn du hast den Schlaf gemeistert.' Wenn du schläfst, bist du dir dessen bewusst?

Erinnere dich: 'Yoga ist Kontrolle der Vrittis' (Yoga-sutras I.2), Kontrolle aller geistigen Aktivität. Welche Aktivitäten? Gültiger Beweis (korrekte Erkenntnis), verzerrte Wahrnehmung, Vorstellung, Schlaf, Erinnerung (pramana, viparyaya, vikalpa, nidra, smriti - Yoga-sutra 1.6).

Das vierte Vritti ist Schlaf. Ohne diese geistige Aktivität zu meistern, steht man nicht einmal am Beginn von Meditation (dhyana). Lerne daher zu schlafen, wobei du dir der Tatsache bewusst bist, dass du schläfst. Lass jenen Teil deines Geistes, der stets beobachtet, wachsam sein.

Welches Geheimnis steckt hinter der Meisterung des Schlafes? Es ist weder Entspannung noch Yoga-nidra oder dergleichen. Das Geheimnis der Meisterung des Schlafs liegt in der Reinigung der Emotionen. Denn durch die Emotionen wird der Geist erschöpft und man wird müde. Man ist so tief in die eigenen emotionalen Muster, die emotionalen Bedürfnisse, in Sorgen und ständiger innerer Ruhelosigkeit verstrickt.

Das Geheimnis der Meisterung des Schlafes liegt darin, sich von diesem Treibgut an der Oberfläche des Geistes nicht daran hindern zu lassen, bewusst in diesen Zustand einzutreten.

Verschiedene Lehren und Methoden

Überall lässt sich die Tendenz beobachten, Lehren aus verschiedenen Traditionen und unterschiedlichste Methoden miteinander zu kombinieren. Techniken, die man beim Besuch eines Ashrams kennengelernt hat, vermischt man mit anderen Methoden, über die man in Büchern gelesen hat. Die Kluft zwischen den Methoden überbrückt man mit eigenen Vorstellungen.

Hierin liegt ein großes Problem. Alle erlernten Techniken sind für sich genommen gültig und wirksam, sofern sie aus einer authentischen Tradition stammen. Sie alle sind Teil eines enorm weitläufigen Systems. Darin finden sie alle ihren bestimmten Platz. Man kann es mit dem Körper vergleichen: eine Leberzelle kann nicht die Funktion einer Herzzelle übernehmen; die Herzzelle kann nicht die Aufgaben der Bauchspeicheldrüse übernehmen; die Zellen der Bauchspeicheldrüse können nicht die Funktion der Augen übernehmen; die Zellen der Augen können nicht die Funktion der Ohren übernehmen. Jede Zelle für sich ist spezialisiert, sie sind in bestimmten Mustern geordnet, doch sie alle gemeinsam bilden den Körper.

Jemand, der sich mit Physiologie, Anatomie oder Biochemie auskennt, untersucht diese Muster, die Ordnung, in der alles angeordnet ist. Wo fügen sich die einzelnen Teile ein? Und genauso ist es beim vielschichtigen System der Yoga-Systeme. Es gibt viele Zellen, doch gemeinsam bilden sie ein System. Man muss wissen, wofür jede Zelle geeignet ist und wo sie ihren richtigen Platz findet.

Die Stärke der Himalaya-Tradition, so wie sie hier gelehrt wird, besteht darin, dass sie alle Systeme kennt und kein System ausgegrenzt. Die Stärke der Himalaya-Tradition besteht im Wissen darum, wo und wie all diese Systeme sich zusammenfügen.

Will man die wahren Ziele des Yoga verwirklichen, so ist es notwendig, die Komplexität und Ausgewogenheit im gesamten kosmischen System zu begreifen. Wohin ist welche Erfahrung zuzuordnen. Ich spreche von den Systemen auf der Landkarte des Bewusstseins. Will ich nach Rishikesh, werde ich nicht dorthin finden, indem ich in Richtung Haridwar oder Delhi gehe. Man sollte daher die Landkarte kennen.

Die Grundlagen entwickeln

Erlernt die Grundlagen und errichtet so ein solides Fundament: korrekte Sitzhaltung, entspannte Ruhe, korrekte Atmung; die Entspannung sämtlicher Muskeln, der Nerven und des aktiven Geistes; Reinigung der Emotionen - damit ist gemeint, zur Ruhe zu finden und nicht ständig zwischen den Extremen von Depression und des Hochgefühl hin- und herzuschwanken; nicht unterbrochenes Atemgewahrsein.

Die Definition von Meditation für die Anfängerstufe ist gut bekannt: ein ruhig fließender Gedankenstrom mit nur einem Objekt als Inhalt. Durch diese Art Achtsamkeit entwickelt sich ein nach innen gerichtetes, innenorientiertes Bewusstsein. Sich des inneren Ruhepunkts gewahr zu sein, während man effizient und erfolgreich in der Welt tätig ist, das ist innenorientierte Achtsamkeit. Und dann gehe in die Stille.

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