Die Kennzeichen für spirituellen Fortschritt (4)
Auszüge aus der Vortragsserie von Swami Veda Bharati
(Adhyatma Yoga-Retreat, 2002)
Teil 4
'Mache ich in meiner Meditation Fortschritte?'
Es gibt nur eine Erfahrung, nach der man Ausschau halten sollte: das Fehlen von Erfahrungen. Die einzig zuverlässige Erfahrung ist Stille im Geist, das Versiegen der Bewegungen im Geist. Denn dann wird der Geist zu einem tiefen, gleichmäßig fließenden Strom. Nimmt man das wahr, so beobachtet der höhere Geist die Aktivitäten des niederen Geistes. Nimmt der geistige Beobachter (buddhi) wahr, dass der niedere, aktive Geist ruhig und gleichmäßig fließt, dann macht man Fortschritte in der Meditation.
Wenn man sich zur Meditation setzt: wie lange dauert es, in den Zustand der Meditation zu finden? Macht man Fortschritte, verkürzt sich die benötigte Zeitspanne. Spiritueller Fortschritt lässt sich auch daran ablesen, wie lange nach der Meditation der ungestörte Zustand des Geistes im Alltagsleben bestehen bleibt. Wie lange bleiben die Sinne ruhig? Wie lange bleibt die Körperhaltung ruhig und stabil?
Sieben begrenzende Bedingungen
Weisheit beginnt, aufzudämmern. Sutra II.27 der Yoga-sutras spricht von sieben Aspekten der Weisheit eines Verwirklichten. Verbunden damit werden sieben Zustände aufgegeben:
- das Verlangen nach Wissen (jijnasa)
- der Wunsch, zurückzuweisen oder zu beseitigen (jihasa)
- der Wunsch, etwas zu bekommen oder zu erreichen (prepsa)
- das Verlangen zu handeln (cikirsha)
- Leid, Kummer (shoka)
- Angst (bhaya)
- entgegenstehende Gedanken, Zweifel, Unsicherheit (vikalpa)
Das Verlangen nach Wissen - jijnasa
Das Verlangen nach Wissen wird aufgegeben. 'Ich möchte dies und jenes wissen.' Das Wissen, das allein den Kopf mit Informationen füllt, nicht das wahre Wissen. Wer danach strebt, wird auch in tausenden Zyklen des Entstehens und der Auflösung nicht am Ziel ankommen.
Ablehnung, Aversion - jihasa
Jihasa ist der Wunsch etwas zu beseitigen bzw. zurückzuweisen. Hat man den Punkt der siebenfachen Weisheit erreicht (YS II.27), dann existiert nichts mehr, das verhindert, abgewehrt, vermieden oder beseitigt werden müsste, da es keine Unwissenheit und keinen Schmerz mehr gibt.
Persönliche Ziele - prepsa
'Ich möchte ein Haus besitzen, ein größeres Auto haben, meinen Ruf verbessern'. So lauten Wünsche der noch wenig entwickelten Menschen. 'Ich möchte Gedanken lesen können, Wunder vollbringen können, die Zukunft vorhersagen können. Ich will andere Menschen beeinflussen können'. All dies bezeichnet man als prepsa, das Verlangen etwas zu erreichen.
Der Wunsch zu handeln - cikirsha
Es geht nicht darum, untätig zu sein und jedes Handeln abzulehnen. Es geht vielmehr um Überwindung des Verlangens, das hinter den Handlungen steht. Handelt man immer mit einem bestimmten Eigeninteresse, hat man noch keine spirituellen Fortschritte gemacht.
Was geschieht, wenn man dieses Verlangen aufgibt? Dann verschwindet das Verlangen hinter der Handlung, nicht jedoch das Handeln selbst. Diese Art des Handelns erzeugt kein Karma. Ein Handeln frei von Eigeninteressen erzeugt kein Karma.
Kummer, Schmerz, Leiden - shoka
Verbunden mit diesen vier Veränderungen treten drei sekundäre Veränderungen in der psychologischen Struktur der Persönlichkeit auf. Eine davon ist das Freiwerden von Kummer, Leiden: dem Schmerz bezogen auf das, was man nicht erreicht, nicht bekommen hat, das Leiden aufgrund verpasster Gelegenheiten oder verlorener Beziehungen. Man hält diesen Kummer im Geist lebendig, dann handelt man aus diesem Kummer heraus.
Angst - bhaya
Aus dem Verlorenen, das man betrauert, erwächst Angst. 'Was, wenn mir das wieder passiert? Werde ich auch noch dies oder das verlieren?'
Diese Art Ängste lernt man zu überwinden - die Angst vor dem Tod, die Angst vor Verlust seines Ansehens, die Angst, eine Beziehung oder seinen Besitz zu verlieren, und die größte Angst - die Angst vor Verlust seiner Persönlichkeit, seines derzeitigen psychologischen Zustands, mit dem der Großteil der Menschen aufs engste identifiziert ist. Von allen Ängsten ist diese die ärgste. Sie bewirkt, dass wir die nötigen Veränderungen der psychologischen Struktur der Persönlichkeit unterlassen. 'Ich bin halt so, so muss man mich nehmen.'
Zweifel, entgegenstehende Gedanken - vikalpa
Vikalpa sind entgegenstehende Gedanken, Zweifel. In dieser Angst sind all unsere Wünsche, Kummer und Sorgen, Ängste und Unsicherheiten enthalten. Sobald man denkt: 'Ich sollte es auf diese Weise machen', taucht unmittelbar der gegenteilige Gedanke auf. Andauernd ist man von Selbstzweifeln geplagt. Gedanken und gegenteilige Gedanken, Emotionen und gegenteilige Emotionen, Unsicherheit, sowie die Unfähigkeit, sich ein Ziel zu setzen: 'Soll ich es auf diese Weise angehen - oder auf jene Weise?' Man lebt in ständigem Zwiespalt - genau das ist Vikalpa.
Macht man spirituelle Fortschritte, fallen diese sieben Anzeichen der Bindung und Unwissenheit ab. Dann gibt es auch keine weiteren inneren Konflikte und Zweifel mehr über seinen spirituellen Weg.
Die Gegensätze integrieren
Ist man spirituell fortgeschritten, kann man sich innerlich festlegen und verpflichten, frei von der Angst vor Konflikten. Es entstehen keine inneren Konflikte mehr, denn der Geist ist allumfassend geworden. Man erkennt, dass in Gegensätzen beide Aspekte wahr sind. Dies ist eine wirkliche spirituelle Befähigung: über die Gegensätze, Dvandvas, hinauszugehen.
Man integriert die Gegensätze als komplementäre Kräfte in ihr gemeinsames Ganzes, und man erkennt, dass es in der Natur, im Universum und im Göttlichen nur komplementäre Kräfte gibt. Mann und Frau sind nicht einander entgegengesetzt, sie ergänzen einander. Tag und Nacht sind keine Gegensätze, sie ergänzen einander.
Veränderung der Wahrnehmung von Zeit und Raum
Die Wahrnehmung der Zeit verändert sich, man betrachtet alle Ereignisse im Kontext der langen Ketten von Ursache und Wirkung. Genau daraus entspringt Weisheit. Während alle anderen verwirrt, verärgert und verängstigt sind, hat man in sich dieses Verstehen. Und sind die Menschen nicht bereit, darauf zu hören, so bleibt man still. Denn im spirituellen Leben gilt das Prinzip, dass man nur spricht, wenn es förderlich und hilfreich ist. Man hat kein Interesse mehr an Selbstdarstellung.
So wie sich das Erleben von Zeit verändert, so verändert sich auch das Raumerleben. 'Mein Dorf, meine Volksgruppe, meine Leute, mein Land, meine Nation', und so fort. Ein Yogi ist sich der gesamten Welt bewusst. Die Wahrnehmung von Zeit und Raum im Alltagsleben verändert sich. Dann sind die Ereignisse in Indien nicht weniger wichtig als jene in Burkina Faso oder in den USA oder sonst wo auf der Welt. Denn man erkennt simultan die Verbundenheit von allem. Es ist eine ganzheitliche Sicht der Geschehnisse.
Klare Zielsetzung
Wer auf dem spirituellen Weg Fortschritte macht, leidet nicht mehr unter solchen Konflikten. Das letztendliche Ziel ist dann völlig klar und wird niemals vergessen. Die unmittelbaren Schritte und die noch weiteren Schritte sind völlig klar. Es gibt diesbezüglich keine Unklarheit mehr. Man kennt auch genau die Mittel, die man dafür anzuwenden hat.
Der Geist ist in allen intellektuellen Prozessen vollständig klar. Das ist eine weit größere Errungenschaft, als die Gedanken anderer lesen zu können. Die Welt in ihrer Gesamtheit in einem Augenblick zu erfassen und auf dieser Grundlage seine Entscheidungen zu treffen, ist eine weitaus bedeutendere Fähigkeit, als mit dem geistigen Auge zukünftige Ereignisse zu erkennen.
Fasse daher eine klare Definition dafür, was du unter spirituellem Fortschritt verstehst. Das alles ist innerhalb deiner Reichweite. Man kann es in diesem Leben erreichen, während man ein ganz normales Leben führt. Es bedarf nur der Entscheidung dafür, diese kleine Veränderung in der geistigen Einstellung zu bewirken.
Denke über diese Dinge nach. Ich unterrichte nichts, womit ich nicht selbst experimentiert habe.